Alt und zufrieden
Beim Radfahren begegne ich einem alten Ehepaar. Ich denke: früher saßen sie vielleicht in einem Ford und fuhren ins Grüne, heute schiebt jeder seinen Rollator vor sich her. Er hat zusätzlich ein paar Gehstützen „im Gepäck“. Auffallend bei einer Temperatur von 28° C die korrekte Kleidung: Hemd, Weste und Jacke und ein kleines Wollmützchen auf dem schütteren Haar, sie in Rock und Bluse, und auch bei ihr fehlt das Jäckchen nicht. Beide haben dieses zufriedene, in sich ruhende Lächeln, das ausstrahlt, dass sie auf ein erfülltes Leben zurückschauen oder sich zumindest in der aktuellen Situation eingerichtet haben.
Für mich heißt das – im positiven Sinne: alt und lebenssatt! Ich freue mich für sie.
Erlebnisgastronomie
Überlingen im April
Nach einem verfrühten Sommerwochenende und einem Regentag gestern wird es heute wieder schön. Die Sonne scheint bereits, wenn man den Himmel auch noch nicht durchgängig als blau bezeichnen kann, ein kühler Wind weht. Auf der Promenade sind die Tische draußen gut gefüllt, eine Eisdiele hat bunte Decken über einige der Stühle gehängt. Zum Teil werden sie genutzt, die meisten Leute sitzen im Anorak herum.
Ich gehe ins „La Vita“ und frage: „Man muss aber nicht draußen essen?“ Die Bedienung lacht und verneint. Ich möchte mein Essen genießen, nicht von einem Anorak eingeengt, nicht mit Serviette und Wind kämpfen… an der Sonne werde ich mich nachher wieder erfreuen.
Es ist so etwas wie „Erlebnisgastronomie“: ich habe sowohl die Gäste, als auch die Mannschaft im Blick, die Spaß an ihrer Arbeit zu haben scheint. Eine junge Mitarbeiterin wird offensichtlich erst eingelernt – sie ist mit wachem Interesse bei der Sache.
Hinter der Theke füllt eine Frau mit stetem Lächeln Kaffee- und Cappuccinotassen, Latte Macchiato und Espresso, ein Italiener poliert Gläser – sein linker Arm ist von oben bis unten tätowiert.
Ein älteres Ehepaar betritt das Lokal – ihr Outfit (Kleidung und Sonnenbrille) lässt mich erwarten, dass auch sie aus Italien kommen. Sie nehmen am Nebentisch Platz und beginnen, sich in breitestem Schwäbisch zu unterhalten! Ich bin echt überrascht.
Herbst in Überlingen
Der Herbst lehrt das Loslassen – insbesondere bei Regen. Die Bäume haben einen Großteil ihrer Blätter abgeworfen, sie liegen bunt und zertreten auf dem Boden, durch den Regen können sie zur Gefahr werden. Einige schwimmen verloren auf dem See.
Die Boote sind abgedeckt – wird es noch einmal sonnige Tage geben, um sie wieder zu Wasser zu lassen?
Am Landungsplatz warten die Möwen und Enten vergeblich auf jemanden, der ihnen Brocken zuwirft – wie verwöhnt sind sie an Sommertagen?!
Auch die Figuren des Lenk-Brunnens müssen sich selbst genügen – keiner, der stehenbleibt und stutzt, keine Kinder und Hunde, die ins Wasser springen.
Eine Handvoll Touristen schaut Postkarten an oder studiert das Kinoprogramm – bei diesem Wetter eine Alternative und eine Ablenkung.
Der See geht in den Horizont über – ein Hinweis auf das Ende?
Wenn der Herbst das Loslassen lehrt, würde es Sonne erträglicher gestalten? Wäre der Schmerz geringer? Muss Loslassen mit Schmerz verbunden sein, oder wird es leichter, wenn das „Danach“ Gestalt annimmt?
Will der Herbst nur das Loslassen lehren und nicht vielmehr das bewusste Genießen davor?
Ich kann kostbare Augenblicke nicht festhalten, aber ich kann sie wahrnehmen, auskosten, auf der Zunge zergehen lassen, mit anderen teilen. Sie sind Vorgeschmack, d.h. sie können zur Genusseinübung dienen, umso größer der spätere Gewinn.
Was heißt das für meinen „Lebensherbst“? Die Kräfte werden nachlassen, manche Gebrechlichkeit wird kommen. Noch ist es nicht soweit > genießen! Sich auf den langsameren Gang einstellen.
Ältere Menschen erzählen gerne von ihren Krankheiten. Habe ich andere Geschichten zu erzählen?
Der Herbst bietet nicht nur das gefallene Laub, er schmückt auch die Bäume mit Blättern, die in intensiven Farben glühen – eine letzte Kraft vor dem farblosen Winter. Heißt das, dass ich in diese Lebensphase noch einmal ganz neue Kraft investieren muss / darf? Der Herbst als Angebot, bevor eine schneeweiße Stille das Land bedeckt.
Der Herbst – eine intensive, bunte Zeit: Ernte, Frucht, Drachen steigen > der Herbst lehrt eine ganze Menge.
Ich denke, es lohnt sich, den Herbst zu leben!
Markt: Bäckereistand
Als ich mich in der kurzen Schlange anstelle, ist die Verkäuferin, eine nette ältere Dame, gerade dabei, im Kopf den Preis für eine reichhaltig gefüllte Brötchentüte zu errechnen. Obwohl sie hochkonzentriert bei der Sache ist – die Stirn ist angespannt, die Augen stur auf die Tüte gerichtet, der Mund formt unhörbare Zahlen -, verhaspelt sie sich und beginnt von vorne.
Nachdem schließlich die Rechnung beglichen ist, ist ein Junge an der Reihe. Auch bei ihm kommt eine stattliche Anzahl Brötchen zusammen und sie beginnt zu rechnen. Plötzlich fragt er: „Wie viele Elsässer sind es?“ „Zwei!“ – natürlich beginnt der Rechenvorgang von Neuem.
Als nächstes gibt ein Ehepaar seine Wünsche bekannt. Ich hoffe bereits inständig, dass man die Dame ungestört rechnen lässt, als die Frau, eine echte Frohnatur, sagt: „Sagen Sie mir einfach, was die einzelnen Brötchen kosten, dann helfe ich Ihnen!“ Wieder ist der Faden ab und die Rechnung beginnt beim ersten Brötchen. Kurz bevor die Tüte komplett ist, platzt die Frohnatur heraus: „Und noch eine Franzosenstange!“ Womit hat die Verkäuferin das verdient?! Ich bewundere ihre Ruhe, mit der sie lächelt, ein Baguette einpackt und sich wieder dem Rechnen hingibt.
Ich glaube, ich mache ihr direkt eine Freude damit, dass ich nur eine Brezel will und das Geld abgezählt hinlege. Sie wünscht mir ein schönes Wochenende.
Rückflug
Wenn man einen warmen Sommerurlaub verbringen möchte, sollte man vielleicht nicht unbedingt nach Wales/England gehen. Meine Freundin, die schon seit Jahren dort lebt, hatte mich zwar vorgewarnt, aber 13 – 19°C Ende August schienen mir dann doch reichlich frisch! Aus Karlsruhe war ich bei völlig anderen Temperaturen aufgebrochen!
Wir hatten dennoch sehr schöne Tage miteinander verlebt, und am Freitag brachte sie mich dann um 12.00 Uhr an den Flugplatz Cardiff zur Abreise: Flug Cardiff – Amsterdam, Amsterdam – Frankfurt. Mein Flieger sollte um 13.35 Uhr starten.
Nach dem Abschied versuche ich, mich zu orientieren, wo ich hin muss, wie hier alles läuft… Meine erste Hürde besteht schon darin, dass meiner Bordkarte das Abfluggate nicht zu entnehmen ist – es wird durchgesagt! Die Durchsagen werden jeweils sehr schnell gesprochen und erscheinen mir sehr zeitnah. Ein ungemütliches Gefühl macht sich in mir breit: „Hoffentlich verpasse ich nichts!“ Zu allem Überfluss lese ich an einer Anzeigentafel, dass meine Maschine ca. 45 Minuten Verspätung hat – ich frage mich, ob ich den Anschlussflug in Amsterdam bekommen werde. Auf dem Hinflug gab es nämlich in Amsterdam extreme Warteschlangen bei der Passkontrolle.
Ich setze mich direkt vor eine der Anzeigentafeln, damit mir nichts entgeht und beobachte die Reisenden. Dabei fallen mir drei deutsche Herren in braunen Lederjacken auf, aus deren
Gespräch ich entnehme, dass sie auch nach Amsterdam wollen – sie haben also das gleiche Problem wie ich, meines wird dadurch etwas kleiner, mein Puls reguliert sich wieder!
Als wir schließlich aufgerufen werden zum Gate elf, ergibt sich eine weitere Verzögerung: man hat bei der Maschine ein Problem mit dem Öl festgestellt – wir warten weitere zehn Minuten! Nun bittet uns eine Flugangestellte, zur Lounge zurückzukehren, bis das Problem gelöst ist – wir werden dann wieder aufgerufen. Mir fällt eine Frau auf, die diese Durchsage sehr gelassen und mit einem Lachen aufnimmt, als hätte sie gar nichts anderes erwartet. Um meine Adrenalinausschüttungen in Grenzen zu halten, schließe ich mich ihr an und erfahre, dass sie beruflich häufig in Cardiff zu tun hat und schon jede Menge Probleme hier erlebt hat: sie wurde schon mit dem Bus nach Bristol oder London gefahren, um vom dortigen Flughafen abzufliegen, oder sie musste übernachten, sie landete schon in Köln statt in Düsseldorf… Ich wundere mich nicht mehr, dass sich ihr Handgepäck deutlich von dem meinen unterscheidet: sie ist auf zwei zusätzliche Übernachtungen eingerichtet! In der Lounge holt sie mit größter Selbstverständlichkeit ihren Laptop aus der Tasche und beginnt zu arbeiten – ihre einzige Sorge im Moment ist, dass sie ihren morgigen Friseurtermin verpassen könnte. Das erscheint mir nun doch etwas übertrieben – trotz ihrer Negativerfahrungen braucht sie ja nicht gleich den ganzen Flug in Frage stellen!
Nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit dürfen wir wieder am Gate elf antreten und werden schließlich mit einem Bus auf das Rollfeld zu unserer Maschine gebracht, einem sogenannten „cityhopper“ mit 55 Sitzplätzen. Nach einigen Entschuldigungen und Erklärungen des Piloten rollen wir tatsächlich mit nunmehr zweistündiger Verspätung los. Wir bekommen gerade so richtig schön Schwung, werden in unsere Sitze gedrückt – als der Pilot ganz abrupt abbremst! Er erklärt, dass man ihm soeben die Starterlaubnis entzogen habe wegen eines Vogelschwarmes!!! Es könnte sein, dass uns ein Vogel in den Propeller geraten ist! Das muss für einen der Fluggäste doch zu viel gewesen sein, denn kurz darauf trägt eine Stewardess mit professionellem Lächeln aber dennoch spitzen Fingern eine der Tüten, die für solche und ähnliche Fälle bereitgestellt sind, durch den Flur.
Einer der Passagiere geht nach vorne zum Cockpit und gibt sich als Flugzeugmonteur zu erkennen. Daraufhin wird draußen auf dem Rollfeld eine mobile Treppe herbeigefahren, auf die unser Monteur steigt und mit einer Art Endoskop die Propeller überprüft. Da er eine gewaltige Verantwortung übernimmt, tut er das akribisch – er scheint auch keine Eile zu haben.
Mir fällt ein, dass ich meinem Abholservice in Karlsruhe Bescheid sagen muss, dass ich mit Sicherheit nicht pünktlich landen werde, denn den Anschlussflieger kann ich unmöglich noch erwischen. Ich rufe also dort an, kann meinen Gesprächspartner auch gut verstehen, allerdings hört er mich gar nicht und ruft ständig „Hallo, hallo…!“ Ich resigniere, zumal ich feststelle, dass ich die Zeitdifferenz nicht bedacht hatte – in Deutschland ist man bereits eine Stunde weiter als hier, d.h. mein Abholer ist bestimmt längst unterwegs nach Frankfurt – Pech!
Im Flugzeug versucht man uns mit einem Gläschen Orangensaft bei Laune zu halten. Das ist zwar eine relativ bescheidene Geste, aber die Stimmung ist ohnehin erstaunlich gut.
Nach einer Stunde kommt unser Monteur wieder herein, strahlt über das ganze Gesicht und sagt: „Alles o.k.!“ Wir sind erleichtert, schnallen uns erneut an und sind zum Start bereit. Da meldet sich der Pilot wieder: es ist ihm außerordentlich peinlich, aber gerade hat er vom Tower erfahren, dass die Fluggesellschaft Wert darauf legt, dass das Ganze noch einmal von einem eigenen Monteur überprüft wird. Das ist eigentlich verständlich und gut nachvollziehbar – die Sache hat nur einen Haken: diesen Monteur muss man erst aus Amsterdam einfliegen! Ich bin sprachlos! Wir verlassen also kurz nach 16.30 Uhr unseren Flieger, werden mit dem Bus wieder zum Flughafengebäude gebracht und nehmen am Band unsere Koffer wieder entgegen. Ich sage zu meiner Vielfliegerin: „Geschichten, die das Leben schreibt!“ Sie antwortet schlagfertig: „Aber man möchte eigentlich nicht in jedem Kapitel mitspielen!“
Wir stellen uns in einer Schlange am Ticketschalter an, um umgebucht zu werden. Plötzlich klingelt mein Handy – es ist mein Abholer, der aus Frankfurt anruft und fragt, ob ich meinen Koffer schon habe. Ich erwidere: „Ja, meinen Koffer habe ich, aber meinen Flieger habe ich nicht bekommen!“ Ich bin dankbar, dass hier die Verbindung so gut ist und verspreche, mich zu melden, sobald ich Näheres weiß, gegebenenfalls werde ich auf den Anrufbeantworter im Büro sprechen.
Wir hören, dass der nächste Flug nach Amsterdam am folgenden Morgen um 6.05 Uhr stattfindet! Die Vielfliegerin sagt ganz pragmatisch: „Wenigstens haben wir unser Gepäck!“ Darüber bin ich auch froh, denn mein Handgepäck hätte mich nicht wirklich über eine „geschenkte“ Nacht hinweggerettet.
Während wir in der Schlange stehen, läuft ein Flughafenangestellter mit einem Täfelchen an uns entlang, auf dem die Frage steht, ob jemand Iranisch spricht. Es meldet sich niemand, was ihn vermutlich nicht überrascht. Er wendet sich schulterzuckend an eine ältere Dame, die hilflos auf einem Stuhl sitzt und offensichtlich nicht versteht, was in den letzten Stunden vor sich ging. Wenn ich bedenke, dass ich – trotz meiner Englischkenntnisse – dankbar für meine Vielfliegerin bin, kann ich mir ansatzweise vorstellen, wie es dieser Dame geht!
Als ich schließlich an der Reihe bin, erfahre ich, dass ich zwei Möglichkeiten habe: einen Flug um 6.05 Uhr oder um 11.00 Uhr, der Anschlussflug nach Frankfurt dann um 13.10 Uhr. Da ich keine weiteren Risiken eingehen will, entscheide ich mich für den Frühflug, frage aber glücklicherweise nach, ob es denn dazwischen nichts an Flügen gibt von Amsterdam nach Frankfurt. Zunächst ziert sich die Dame am Schalter etwas, antwortet dann aber: „Doch, mit Lufthansa um 10.00 Uhr, Ankunft in Frankfurt um 11.05 Uhr!“ „Gut, dann nehme ich Lufthansa!“ Also werde ich entsprechend gebucht und erhalte zusätzlich einen Gutschein für eine Hotelübernachtung, einen Verzehrgutschein, einen Gutschein der Fluglinie über 10.-€ und einen Taxitransfer.
Zu dritt – zur Vielfliegerin hat sich ein weiterer „Berufsflieger“ gruppiert – fahren wir zum Hotel und verabreden uns dort zum Abendessen. Die Auswahl ist etwas eingeschränkt, aber wir sind ja schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier! Wir machen das Beste aus der Situation, die für meine beiden Begleiter alles andere als ungewohnt ist. Wirklich ärgerlich scheint nur die Sache mit dem Friseurtermin zu sein!
In meinem Zimmer sage ich mir später: falls wir tatsächlich einen Vogel im Propeller gehabt und womöglich über dem Ärmelkanal die Schwimmwesten hätten anlegen müssen, liege ich doch lieber in einem Hotelbett in Cardiff! Auch der Gedanke, dass ich evtl. noch heute nach Amsterdam gekommen wäre, dort aber u.U. keinen Anschlussflug bekommen hätte und die Nacht im dortigen Flughafen hätte verbringen müssen, heimelt mich nicht an.
Am nächsten Morgen werden wir um 4.30 Uhr nach einem kleinen Frühstück wieder zum Flugplatz gebracht und begrüßen die anderen Mitreisenden mit einem Lächeln – über Nacht sind wir zu einer Art „Schicksalsgemeinschaft“ geworden. Ich rufe sofort meinen Abholdienst an und spreche meine geplante Ankunftszeit auf den Anrufbeantworter. Nun läuft alles planmäßig, es gibt keinerlei Probleme – nur ein ganz kleines: in Amsterdam möchte ich sicherheitshalber noch mal beim Abholer anrufen, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung geht, bekomme aber kein Netz für mein Handy. Nun gut, ich habe meine Ankunft ja auf Band gesprochen!
Ich lande punktgenau um 11.05 Uhr in Frankfurt, habe relativ schnell meinen Koffer und marschiere erleichtert und erwartungsvoll zum Meetingpoint. Weit und breit kann ich niemanden entdecken, der mich abholen will! Ich rufe also erneut in Karlsruhe an, und es stellt sich heraus, dass man dort das Band nicht abgehört hat, denn sonst hätte ich mit dem Fahrer, der vorhin leer von Frankfurt nach Karlsruhe gefahren ist, mitfahren können. Ich fasse es nicht! Auf diese Idee wäre ich zuletzt gekommen, dass ein professioneller Abholservice morgens seinen Anrufbeantworter nicht abhört! Man vertröstet mich mit einem Fahrer, der um 14.00 Uhr ein Ehepaar abholen wird, das aus der Türkei zurückkommt. Ich mache es mir also auf dem Flugplatz „gemütlich“, obwohl ich eigentlich keinen Bedarf an weiterem Warten habe.
Für heute Abend hatte ich ein Treffen mit einem Freund vereinbart, das mir jetzt aber doch zu viel wird. Ich weiß, dass er auf einer Fortbildung ist, aber da ich keine Handynummer von ihm habe, rufe ich bei ihm zu Hause an, spreche auf seinen Anrufbeantworter, obwohl ich heute ja schon sehr schlechte Erfahrungen mit einem solchen Gerät gemacht habe und hoffe inständig, dass seine Frau meine Meldung abhört und ihn dann über Handy benachrichtigt.
Recht bald kommt dann ein netter Fahrer auf mich zugestürmt, der mir schon mal meinen Koffer abnimmt, damit ich etwas beweglicher bin. Als er kurze Zeit später erneut auftaucht, schwant mir nichts Gutes, und ich bin dann auch nicht erstaunt, als er sagt, dass der Flieger aus der Türkei Verspätung habe! Es ist ein wunderschöner, heißer Sommertag – anders als die Tage in Wales. Ich könnte längst zu Hause auf meiner Terrasse sitzen und mich von den Strapazen erholen, mit einem kühlen Getränk und einem guten Buch, aber nein: ich warte auf den Flieger aus der Türkei!
Um 15.30 Uhr fahren wir schließlich los, das Ehepaar, das seinen Urlaub in der Türkei genossen hat, plaudert noch ein wenig, beide machen einen entspannten Eindruck und schlafen doch tatsächlich kurz darauf ein! Ich bin zwar todmüde, aber während des Fahrens konnte ich leider noch nie schlafen. Ich stelle mich vorsichtshalber schon mal auf einen langen Stau auf der A5 ein, aber zu meiner großen Überraschung kommen wir zügig durch, der Fahrer gibt sein Bestes, und ich bin um 16.35 Uhr zu Hause.
Mein Anrufbeantworter blinkt, und ich höre ihn ab, so wie ich das auch von einem Abholservice erwartet hätte! Neben verschiedenen Grüßen und sonstigen Botschaften höre ich die Stimme des Freundes: „Ich steige jetzt in den Zug nach Karlsruhe und komme um 17.32 Uhr dort an und freue mich tierisch auf unser Treffen!“ Ich hatte mich ursprünglich auch sehr darauf gefreut, allerdings hatte ich damals erwartet, einen Tag vorher zurück zu sein. Ich fange an, meinen Koffer auszupacken, mache mich etwas frisch, steige in mein Auto, obwohl ich mich nicht ganz fahrtüchtig fühle, fahre zum Bahnhof und hole ihn ab. Als ich ihm meine Odyssee berichte, hat er vollstes Verständnis dafür, dass ich zum Umfallen müde bin. Wir schauen nach, wann der nächste Zug zurückfährt, gehen zu meinem Lieblingsitaliener, sitzen draußen im Garten – das wäre in Wales nicht einmal am Nachmittag möglich gewesen -, genießen ein köstliches Essen, unterhalten uns angeregt, und dann fährt er wieder zurück.
Ich schicke meiner Freundin eine Mail nach Wales, dass ich gut gelandet bin – nur eben einen Tag später als erwartet!
Aufgabe im Fernstudium: Ein Schulerlebnis, das mich froh gemacht hat
Aus Ich-Perspektive:
Es war ein strahlender Sommermorgen im Juni 1962 – keine Wolke war am Himmel zu sehen, die Luft war schon warm und barg einen Hauch von Blütendüften. Die Vögel hatten längst ihr Frühkonzert angestimmt, das in dem Städtchen Bühl nur mit wenig Straßenverkehr konkurrieren musste. Ich trug ein kurzärmeliges blaues Sommerkleid, weiße Söckchen und blaue Sandalen, auf dem Rücken einen schweren braunen Lederranzen – ich war stolze Erstklässlerin und stand mit meinen Freundinnen auf dem Hof vor der Schule. Wir hatten uns, wie jeden Morgen, sehr viel zu erzählen. Gleich rechts neben der Schule war die Obstgroßmarkthalle, deren Besitzer zwei große Bernhardinerhunde hatte. Nichts deutete darauf hin, dass heute etwas Besonderes geschehen würde, bis wir auf einmal einen dieser Hunde auf uns zukommen sahen! Die anderen Mädchen wichen zur Seite, ich stand wie angewurzelt da, starr vor Schreck. Das Ungetüm kam gemächlich, aber direkt auf mich zu und stand mir schließlich fast auf Augenhöhe gegenüber – ich gehörte zu den Kleinsten der Klasse. Ich wagte nicht zu atmen, nahm auch von meiner Umwelt nichts mehr wahr, außer diesem riesigen Tier. Es kam noch etwas näher und stupste mich an die Brust – ich fiel wie ein gefällter Baum auf den Boden, der Schulranzen federte glücklicherweise den Aufprall ab. Ich hatte panische Angst vor Hunden, und da lag ich nun und wusste nicht, was als nächstes geschehen würde. Der kalte Schweiß trat mir auf die Stirn, meine Augen waren aufgerissen.
Minutenlang passierte – nichts, gar nichts! Plötzlich stand meine Klassenlehrerin neben mir, meine Erstarrung löste sich. Sie nahm mich bei der rechten Hand, zog mich hoch und fragte, ob mir etwas weh tue, was ich verneinte. Sie sprach beruhigend auf mich ein und meinte dann, ob ich den Hund streicheln wolle. Der Bernhardiner hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich ganz vorsichtig meine kleine Hand ausstreckte und das Fell berührte. Es fühlte sich weich und warm an. Der Hund sah mich aus treuen Augen an und gab ein zufriedenes Knurren von sich. Ich konnte es nicht fassen – immer wieder ging mir der Gedanke durch den Kopf: „Er hat mich nicht gefressen! Er hat mich nicht gefressen!“ Meine Hand grub sich tiefer in das Fell, aus der vorsichtigen Berührung wurde ein etwas unbeholfenes Kraulen, ich war völlig verblüfft, dass alle Bedrohung gewichen war!
Die Schulglocke hatte längst geläutet, mir hatte sie nicht gegolten, ich stand auf dem Hof – mein anfänglicher Schock wandelte sich in Verzückung, eine lang gehegte Angst löste sich in Nichts auf.
Die Stimme meiner Lehrerin riss mich in die Wirklichkeit zurück, widerwillig ließ ich mich von ihr ins Schulgebäude schieben, immer wieder drehte ich den Kopf zu meinem neuen Freund um. Der Unterricht glitt an mir vorüber, meine Gedanken waren beschäftigt mit einem braun-weiß gefleckten Hund, der einem Märchenwesen glich, einem Knurren, das wie Musik klang, einem Fell, das mein Herz warm werden ließ und einem Geruch, der mich verzauberte. Die Pausenglocke holte mich aus meinen Träumen zurück auf die harte Schulbank, auf der ich regungslos gesessen hatte. Nun gab es eigentlich nur noch einen Wunsch für mich: ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, um meiner Mutter von diesem großen Ereignis zu berichten. Die nächsten Schulstunden zogen sich endlos hin, der Zeiger an der großen Uhr schien sich nicht zu bewegen, die Worte der Lehrerin drangen nicht bis zu mir durch. Das Stillsitzen fiel mir schwer – mir war nach Hüpfen, Klatschen, Jauchzen zu Mute! Nach dem Schlussgong schoss ich wie ein Pfeil nach Hause und überschüttete meine Mutter mit meinem Glück!
Aus der Perspektive einer anderen Person:
Die 32-jährige Frau Becker war Lehrerin an der Grundschule in Bühl und kam morgens gerne mit dem Fahrrad zur Schule. Sie hatte einen kurzen Weg und liebte die Frische des Morgens, den Fahrtwind auf der Haut, den Duft nach feuchtem Gras entlang der Vorgärten. Heute trug sie ihren grauen Hosenrock, ein Lieblingsstück, und eine fliederfarbene Bluse. Ihr schulterlanges blondes Haar, zu einem lockeren Schwanz zusammengebunden, verströmte noch einen Hauch von Apfelshampoo.
In gebückter Haltung stand sie am Fahrradständer und schloss ihr Rad ab, als plötzlich jemand heftig an ihrem Arm zog. Sie schaute auf und sah die kleine Irmela aus der 1a, die ganz aufgeregt schrie: „Frau Becker, schnell, kommen Sie!“ und in Richtung Obstgroßmarkthalle deutete. Es bot sich ihr eine Szene dar, deren Sinn sich ihr nicht gleich erschloss: da lag Jutta, ebenfalls aus der 1a, rücklings auf dem Boden, der Bernhardiner von nebenan stand neben ihr, als ob er sie beschützen wolle. Ihre Gedanken überschlugen sich: „Was ist passiert? Ist sie ohnmächtig? Brauchen wir einen Krankenwagen? Haben wir die Aufsichtspflicht verletzt?“ Sie ließ alles stehen und liegen und rannte los. Was auch immer geschehen sein mochte, aus der Nähe sah das Ganze weitaus weniger bedrohlich aus. Sie atmete auf. Jutta schien unverletzt, das war mit Sicherheit dem stabilen Ranzen zu verdanken, der für das zarte Mädchen eigentlich viel zu schwer war. Das Kind war völlig im Schock, alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Frau Becker bückte sich zu Jutta hinunter, half ihr vorsichtig auf die Beine und fragte, ob sie verletzt sei. Es war wie eine Eingebung: wenn es überhaupt eine Chance gab, diesem Mädchen etwas von seiner Angst zu nehmen, dann mit diesem gutmütigen Kalb! Mit sanfter Stimme ermutigte sie es, den Hund zu streicheln und begann selbst, ihn hinter den Ohren zu kraulen. Tatsächlich ließ sich Jutta, die zunächst ängstlich fragend zu ihr aufgeschaut hatte, darauf ein und streckte ihr Händchen aus und berührte vorsichtig das Fell.
Man konnte zusehen, wie mit dem Mädchen eine Veränderung vor sich ging: die Farbe kehrte in das Gesicht zurück, die Anspannung ließ nach – es stand lockerer da, seine Augen begannen zu glänzen. Die Freundinnnen hatten sich fast andächtig im Kreis aufgestellt und beobachteten die Szene mit offenen Mündern. Plötzlich ertönte die Schulglocke. Frau Becker signalisierte den Schülerinnen, dass sie schon mal ins Gebäude gehen sollen, sie käme mit Jutta gleich nach.
Sie ließ die Kleine, die ganz verzückt mit ihrer Hand im Fell des Hundes herumwühlte, einen Augenblick alleine, um beim Fahrrad ihre Tasche zu holen und hatte dann Mühe, Jutta von diesem Tier weg zubewegen. Sie schob sie in Richtung Schule und ahnte schon, dass heute wohl nicht mehr viel mit ihr anzufangen wäre, obwohl sie sonst eine eifrige und aufmerksame Schülerin war. Sie schickte sie voraus in den Klassenraum und ging selbst noch kurz ins Lehrerzimmer, wo sie von den Kollegen, die sich gerade zum Unterricht aufmachten, flüchtig begrüßt wurde. Obwohl sie sonst viel Wert auf Pünktlichkeit legte, ging sie doch zur Kaffeemaschine und nahm sich eine Tasse Kaffee, sog begierig den Duft ein, gab dann reichlich Milch dazu, um sich nicht den Mund zu verbrennen und setzte sich einen Augenblick an den Tisch. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie weiche Knie hatte – der Schreck, als sie Jutta so daliegen sah, holte sie ein.
Sie atmete mehrmals tief durch und sagte sich, dass ja alles gut gegangen sei. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, nahm sie die Blätter, die sie für die erste Stunde vorbereitet hatte, und ging in den Klassenraum, von dem ihr Geschnatter und Gekicher entgegen hallte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht – sie mochte diese Erstklässler, die noch so offen für alles Neue waren.